Erzählsalon „Wahlproteste: Die Demokratie wird zu Grabe getragen“ vom 07. Juli

Erzählsalon 07. Juni
Nicola Hochkeppel eröffnet den Erzählsalon

Am 07. Juni 2014 fanden sich, trotz großer Hitze, interessierte Gäste des Erzählsalons und ehemalige oppositionelle Aktivisten in den kühlen Räumen der Berliner Sophienkirche ein. Vor genau 25 Jahren wurde dort die Wut der DDR-Bürger über den offensichtlichen Wahlbetrug des korrupten Regimes in Form eines organisierten Protestes in die Öffentlichkeit getragen. Das Volk demaskierte die Macht auf dem Gipfel aller Lügen. Unter dem Motto „Wahlproteste: Die Demokratie wird zu Grabe getragen“ leitete die Diplom-Sozialwissenschaftlerin Sophia Bickhardt die Gesprächsrunde zwischen Martin Michael Passauer, evangelischer Theologe und damaliger Pfarrer in der Sophiengemeinde, Stephan Neuss und Evelyn Zupke, beide Mitglied des Weißenseer Friedenskreises, und dem Publikum.

Als erstes richtet sich das Wort an Stefan Neuss er erinnert sich an den 07. Mai 1989, der Tag an dem der Betrug bei den Kommunalwahlen festgestellt wurde. Neuss war damals 24 Jahre alt und Mitglied des Weißenseer Friedenskreises. Die oppositionelle Gruppe hatte sich zum Ziel gesetzt, gegen die maroden Verhältnisse des Systems aufzubegehren und endlich „rauszugehen“. Das Tian’anmen-Massaker, das drei Tage zuvor am 4. Juni 1989 am Platz des Himmlischen Friedens 2600 chinesischen Protestanten das Leben kostete, bestärkte Neuss und seine Mitstreiter in ihrer Wut und Frustration. Für Stefan Neuss war das Fass nun endgültig übergelaufen und er engagierte sich aktiv an den Protesten, forderte freie demokratische Wahlen, verfasste Briefe, hielt Fürbitten und ignorierte die sorgenvollen Stimmen, die ihn warnten: „Macht euch nicht zu Kanonenfutter“. Vor der möglichen Strafe in Form einer Ausweisung, hatte er keine Angst. Für ihn war die Demonstration der letzte Ausweg zur finalen Überwindung von langjähriger Angst, Starre und der letztendlichen der Flucht in, wie er sie nennt, Parallelwelten.

Der 68iger Marsch durch die Institutionen diente als Inspiration für Martin Michael Passauers politisches Engagement, erzählt er. Innerhalb der Gemeinden habe man sich sehr gut mobilisieren können, da man sich untereinander kannte und es somit zu einer offenen Arbeit kam. Zwischen den Berliner Kirchen (Samariter-, Gethsemane und der Kirche in Pankow) kam es 1989 zu einer stillen Absprache. Die Sophienkirche galt als Anlaufstelle für DDR-Bürger mit Ausreiseanträgen und bot somit Schutzraum und Diskussionsraum gleichermaßen. Passauer spricht von vielen verschiedenen Gruppen von Menschen, u.a. auch von Kindern, die zu dieser Zeit Zuflucht in der evangelischen Kirche suchten. Am 7. Juli 1989 war der Bereich um das Konsistorium in der Neuen Grünstraße weitlüufig abgesperrt, da die Sicherheitsorgane der Staatsmacht mit allen Mitteln eine Demonstration verhindern wollten. Der Protest verlagerte sich in die Sophienkirche. Passauer selbst sagt, er sei kein Barrikadenkämpfer gewesen, er habe in der Andacht von 18:00 Uhr versucht, zu beruhigen und die aufgebrachten Menschen zur Vernunft zu rufen. Doch auf ihn wurde nicht gehört: „Hör auf zu quatschen, wir wollen demonstrieren“ rief man ihm in die Kanzel zu. Gerührt erzählt er vom Läuten der Kirchenglocken, ein Zeichen der Hilflosigkeit und die höchste Alarmstufe. In Passauer wurden dadurch dunkle Assoziationen wachgerufen, denn es erinnerte ihn an das letzte Mal an dem diese Glocken Alarm schlugen: Im Dritten Reich.

Evelyn Zupke stand am Tag der Demonstration unter Hausarrest. Sie selbst hatte keinen kirchlichen oder oppositionellen Hintergrund als sie dem Weissenseer Friedenskreis beitrat, sondern lediglich „die Nase voll von der Scheinheiligkeit und der Gängelung des Staatsapparates“. Ende 1988 sei der Wahlbetrug in aller Munde gewesen und sie sah es als ihre Aufgabe, den Beweis dafür zu erbringen.

Mit Boykottaufrufen, Flugblättern und Sitzblockaden wollte man den Staat zwingen den Wahlbetrug einzugestehen. Zupke fordert, das Augenmerk nicht nur auf die Proteste von 1989 zulegen, denn die Protestbewegungen anderer Gruppen und auch anderer Jahrzehnte (50iger und 60iger Jahre) seien unterrepräsentiert. Sie kritisiert die bloße Fixierung auf Gedenktage und die allgemeine Legendenbildung um dieses Zeit.

Im zweiten Drittel der Diskussion wird die Frage nach der gesellschaftlichen und auch politischen Verantwortung der Kirche und deren Schwachstellen diesbezüglich aufgeworfen. Wie weltlich kann Kirche sein und inwieweit muss sie Position beziehen. Passauer diagnostiziert der Kirche einen Mangel an Konfrontation und spricht von typischen Verzögerungs- und Beschwichtigungstaktiken als den sogenannten „Stolpismus“.

In der Abschlussdiskussion kommt das Publikum zu Wort, das zum großen Teil aus ehemalige Akteuren der Oppositionsbewegungen und Mitarbeitern der Sophienkirche bestand. In den folgenden persönlichen Erfahrungsberichten wird erneut deutlich, wie Anspannung und Ungewissheit die Atmosphäre in diesen Tagen dominierte.